Die Dynamik der Stille im Wechselspiel des Lebens

(Ein Interview, dass ich im April 2012 dem Konzert der Stille gegeben habe.)

Die Dynamik der Stille im Wechselspiel des Lebens

Lieber Ralf, Du bist Trainer und Coach für authentische Business-Kommunikation. Einen großen Raum Deiner Beratung nimmt die Bedeutung der Stille ein. Was bedeutet Stille für Dich? Wo findest Du Stille?

Die Bedeutung von Stille? Wie beschreibt man etwas so flüchtiges, unbegreifliches, etwas, das sich eigentlich gar nicht beschreiben lässt? Einem ersten Impuls folgend, würde ich sagen: Fühle die Stille – Stille ist. Sie kommt ohne Bedeutung daher. Und alles, was dem hinzugefügt wird, beschreibt nur wieder das, was es nicht ist.

Doch vielleicht kann uns der alte chinesische Weise Laotse dabei behilflich sein, der vor 2500 Jahren das Tao Te King geschrieben hat. Im ersten Kapitel heißt es dort: „Das Tao das beschrieben werden kann, ist nicht das wahre Tao. Der Name der genannt werden kann ist nicht der wahre Name“. Und wenn wir für Tao Stille einsetzen, können wir sagen: Stille, die beschrieben werden kann, ist nicht die wahre Stille.

Wie beschreibt man nun etwas, das sich nicht beschreiben lässt? Ein Zen-Meister würde auf die Frage nach der Bedeutung von Stille damit antworten, dass er einfach nur einen Finger in die Höhe streckt. Oder auf eine blühende Pfingstrosenhecke verweist. All dies ist jedoch für unseren nach Beschreibungen und Definitionen hungernden Verstand nicht sehr zufriedenstellend.

Versuchen wir also, uns dem Wesen der Stille anzunähern, indem wir still werden. Und wie machen wir das? In unserem Alltag sind wir nahezu ununterbrochen von Lärm und Geräuschen umgeben. Diesen versuchen wir für gewöhnlich zu entkommen, indem wir ruhige Orte, z.B. in der freien Natur, aufsuchen.

Jeder kennt dieses Gefühl von Entspannung und innerer Freiheit, das sich in uns ausbreitet, wenn wir in einem ruhigen Park sitzen oder am Meer die untergehende Sonne beobachten. Diese Stille lässt sich auch an heiligen Orten, wie Kirchen und Kathedralen, finden oder auch ganz einfach Zuhause, wenn es uns dort gelingt, eine Oase der Ruhe zu schaffen.

Diese Stille, die auf der Abwesenheit von Lärm und störenden Geräuschen beruht, nenne ich „gewöhnliche Stille“. Eines ihrer Merkmale ist, dass sie nicht lange anhält und sich verflüchtigt, sobald wir wieder in unserem Alltag angekommen sind.

Stille ist jedoch weit mehr als nur die Abwesenheit von Lärm. Und so kann gewöhnliche Stille ein Tor sein zu dem, was ich „echte oder unmittelbare Stille“ nenne. Echte Stille ist wie das unschuldige unbeschriebene Blatt Papier des Dichters oder der leere Raum vor, hinter und zwischen den Noten des Musikers. Echte Stille ist wie der endlos weite Himmel – der Hintergrund, vor dem sich das abspielt, was wir „unser Leben“ nennen. Echte Stille ist der Raum, aus dem heraus sich das Leben entfaltet.

Was sich zunächst sehr abstrakt anhört, lässt sich ganz einfach erfahren: Wenn wir für einen Augenblick unsere Augen schließen und die Aufmerksamkeit nach innen lenken, werden wir bemerken, wie aus dem Nichts heraus Gedanken auftauchen. Einfach so. Ohne unser Zutun. Und wenn wir diese Gedanken in Ruhe lassen, werden sie ebenso wieder verschwinden. Ein ununterbrochenes Kommen und Gehen, das mal mehr, mal weniger deutlich zu spüren ist.

Wenn es uns gelingt, mit unserem Bewusstsein still im Hintergrund zu bleiben, dann können wir dieses Treiben einfach beobachten wie Wolken, die am Himmel vorüberziehen. Echte, unmittelbare Stille ist Ausdruck eines ruhigen Verstandes. Und mit einem ruhigen Verstand ist nicht, wie oft angenommen, die Abwesenheit von Gedanken gemeint.

Vielmehr ist damit der Verstand gemeint, der sich nicht in Gedankeninhalte verstrickt. Und dies lässt sich unmittelbar erfahren. Dazu bedarf es keinerlei Vorbereitung und auch keines bestimmten Ortes – wenngleich das alles hilfreich sein kann, um den Verstand zu beruhigen. Notwendig jedoch ist es nicht.

So schnell und unmittelbar, wie echte Stille einsetzen kann, so flüchtig ist ihr Wesen, und es bedarf einiger Übung und Praxis, um sie zu kultivieren und zur Reife – oder, um ein anderes Wort zu gebrauchen: zur Meisterschaft – zu führen. Das wiederholte Erleben echter Stille durch Übung und Praxis führt zu dem, was ich „reife oder manifeste Stille“ nenne.

Im Zen, der erfahrungsorientierten Richtung des Buddhismus, gibt es die sogenannten „Zehn Ochsenbilder“. Diese beschreiben anhand des Zähmens eines Ochsens – der sinnbildlich für unsere wahre ursprüngliche Natur steht – den Weg zur Erleuchtung.

Während in den ersten acht Bildern das Ringen um das Wiederfinden und Integrieren der wahren Natur beschrieben wird, beschreibt das vorletzte der zehn Bilder die große Leere – den Zustand des Einsseins im Nichts. Dieser Zustand – der eigentlich ein gewahrer Nicht-Zustand ist – erscheint dem denkenden Verstand nicht nachvollziehbar und wird möglicherweise auch Gefühle des Unbehagens auslösen.

Dies ist ein wichtiger Punkt, auf den ich noch zu sprechen komme. Aus diesem Zustand der Leere – die letztlich gleichbedeutend ist mit Stille – tritt der Mensch im zehnten Bild auf den Marktplatz hinaus. Er ist wieder angekommen im Alltag von Leben, Arbeit und Beziehungen und verbleibt aber mit seinem Bewusstsein im Hintergrund, in der Stille, die er, nach langem Ringen und Reifen, in sein Wesen integriert hat.

Der Weg zur reifen oder manifesten Stille führt also über gewöhnliche Stille und das wiederholte Erleben von echter, unmittelbarer Stille. Daher sollten wir uns im Alltag Oasen der Stille schaffen, z.B. durch Aufenthalte in der freien Natur und dadurch, dass wir uns im Trubel des Alltags immer wieder auf den gegenwärtigen Augenblick besinnen.

Dies kann jederzeit und an jedem Ort und unter allen Umständen praktiziert werden. Und natürlich ist es hilfreich, dies z.B. durch regelmäßige Meditation, Bewusstseinsübungen und Körperarbeit zu kultivieren.

Regelmäßiges Üben kann eine große Herausforderung sein, denn wer mag sich schon einen Teil seiner kostbaren Zeit für etwas abringen, dessen Resultat völlig ungewiss scheint (Wir haben schließlich wichtigeres zu tun, nicht wahr?).

Der Lohn jedoch ist unermesslich, das kann ich mit Rückblick auf die letzten 25 Jahre meines Leben mit absoluter Gewissheit sagen. Denn es gibt keine einfachere und bessere Möglichkeit, sich zentrierter, wacher und lebendiger zu fühlen als durch das Kultivieren von Stille. 

Lebendig sein: Steht das nicht im Kontrast zu Stille?

Nein, ganz im Gegenteil können wir unsere Lebendigkeit doch erst dann wirklich spüren, wenn es in uns still wird. Wenn das innere Gedankengetöse abnimmt und wir fühlen, was sich in uns lebendig abspielt – das Pulsieren des Herzschlags, das Strömen des Atems und damit verbunden die Bewegungen des Körpers.

So viele Empfindungen, die Gefühle der Freude und des Glücks auslösen, wenn wir sie nur wahrnehmen würden. Da wir aber in unserem Alltag die meiste Zeit im Kopf und in unseren Gedankenwelten unterwegs sind, ist uns diese Fähigkeit des Fühlens und Spürens weitgehend abhanden gekommen.

Was zur Folge hat, dass wir uns eine Menge Aufregung und Stress kreieren, da wir glauben (denken!), dass wir uns dann wenigstens ein bißchen lebendig fühlen. Dies ist jedoch fatal. Denn dieser Stress stumpft unsere Wahrnehmung noch mehr ab. Also erhöhen wir die Dosis und erzeugen so einen verhängnisvollen Teufelskreis, der nicht selten im Burn-out endet. Diesen Teufelskreis gilt es zu durchbrechen!

Doch das ist nicht so einfach, da es mächtige Widerstände in uns gibt, die uns aber oftmals nicht bewusst sind. So haben wir Angst vor der Stille, weil wir ahnen, dass es da etwas in uns gibt, das wir lieber nicht sehen wollen; etwas, von dem wir glauben, damit nicht zurecht kommen zu können. 

Menschen haben Angst vor Stille, wenn sie diese mit Leere gleichsetzen. Was rätst Du diesen Klienten? Wie arbeitest Du mit dieser Angst?

Zunächst mal ist diese Angst verständlich und nachvollziehbar. Zum Einen, weil wir befürchten, mit Leere (bzw. unserer Vorstellung davon) nicht umgehen zu können, in ein Loch zu fallen und schlimmstenfalls depressiv zu werden. Oder uns zu Tode zu langweilen (s.o. Stichpunkt Stress).

Zum Anderen ist da die Angst, mit etwas konfrontiert zu werden, von dem wir glauben, es nicht handhaben zu können – tief verborgene und bislang verdrängte Gefühle wie Trauer, Wut und Schmerz könnten zum Vorschein kommen und uns hinweg spülen.

Also biete ich diesen Menschen erst mal relevante Informationen, die es ihnen ermöglichen, eine neue Sichtweise in bezug auf Themen, wie Leere und Stille, einzunehmen. Das gibt ihnen die Möglichkeit, ihren Standpunkt zu verändern von „Damit werde ich niemals klarkommen“ über „Nun ja, es könnte möglich sein“ bis hin zu „Ist ja alles gar nicht so schlimm. Darauf könnte ich mich einlassen“.

Nun ist es so, dass ich seit mehr als zehn Jahren regelmäßig im Internet publiziere und neben täglichen Tipps zur Inspiration einen wöchentlichen Coaching-Newsletter herausgebe. Auf diese Weise lernen viele meiner künftigen Klienten mich und meine Art zu arbeiten kennen. Sie bekommen eine Vorstellung von dem, was sie erwartet und bauen Vertrauen auf. Und Vertrauen ist eine wesentliche Voraussetzung, um miteinander arbeiten zu können, insbesondere bei angstbehafteten Themen.

Nachdem so also die nötige Bereitschaft entstanden ist, arbeiten wir zunächst ganz grundlegend an einer essentiellen Fähigkeit, auf der alles weitere aufbaut – der Fähigkeit, die Kontrolle über die eigene Aufmerksamkeit zurückzugewinnen.

Dazu eine kleine Zen-Geschichte: Eines Tages fragte ein Mann den Zen-Meister Ikkyu: „Meister, wollt Ihr mir bitte einige Grundregeln der höchsten Weisheit aufschreiben?“ Ikkyu griff sofort zu Pinsel und Papier und schrieb: „Aufmerksamkeit“. „Ist das alles?“, fragte der Mann. „Wollt Ihr nicht noch etwas hinzufügen?“ Ikkyu schrieb daraufhin: „Aufmerksamkeit, Aufmerksamkeit.“ „Nun“, meinte der Mann ziemlich gereizt, „ich sehe wirklich nicht viel Tiefes oder Geistreiches in dem, was Du gerade hinzugefügt hast.“ Da nahm Ikkyu den Pinsel und schrieb: „Aufmerksamkeit, Aufmerksamkeit, Aufmerksamkeit.“ Verärgert wollte der Mann nun wissen: „Was bedeutet dieses Wort Aufmerksamkeit‘ überhaupt?“ Und Ikkyu antwortete sanft: „Aufmerksamkeit bedeutet Aufmerksamkeit.“

Aufmerksamkeit ist die Währung der Stille. Aufmerksamkeit bedeutet, dass wir völlig präsent bei dem sind, was wir gerade tun. Denn was immer wir gerade tun, können wir mit völliger Präsenz tun. Beim Gehen können wir jeden einzelnen Schritt bewusst spüren, wenn wir sitzen, dann spüren wir, wie wir sitzen, am Computer können wir spüren, wie wir die Tasten mit jedem unserer Finger anschlagen – alle großen und kleinen Alltagshandlungen lassen sich aufmerksam ausführen, was zu Entspannung und Gelassenheit führt und so unser Gefühl von Lebendigkeit stärkt.

Aufmerksames, konzentriertes Handeln aus der Stille heraus führt zu einem effektiven Umgang mit unseren Kräften und unserer Energie und lässt uns den Alltag mit mehr Klarheit und Gelassenheit erleben. Und wo wir aufmerksam und präsent sind, hat Angst keinen Raum mehr.

Den Körper erleben: Körpererfahrungen sind Dir wichtig? Welche Techniken bevorzugst Du und warum?

Der effektive, entspannte Gebrauch des Körpers durch das Entwickeln von Körperbewusstsein sowie das Kennenlernen der Sprache und der Funktion des Körpers macht einen großen Teil meiner Arbeit aus. Dabei greife ich auf Techniken aus der Feldenkrais-Methode sowie der Eutonie und dem Sensory Awareness zurück. Auch meine Erfahrungen mit Kommunikationstheater sowie meine langjährige Tätigkeit als Ergotherapeut kommen mir dabei zugute.

Dabei geht es jedoch in erster Linie weniger um das Erlernen von Techniken als vielmehr um grundlegende Körpererfahrungen, die, wie schon erwähnt, auf der Kontrolle der eigenen Aufmerksamkeit beruhen.

Dazu möchte ich gern ein praktisches Beispiel geben: Im Zen gibt es sogenannte Koans. Dies sind paradoxe, mit dem logisch-denkenden Verstand nicht zu ergründende Rätsel, die den Adepten zu einer Erweiterung seines Bewusstsein führen sollen.

Eines dieser Koans fragt nach dem „Ton einer klatschenden Hand“. Diese Frage erscheint dem rational denkenden Verstand völlig absurd, denn jedes kleine Kind weiß, dass es zum Klatschen zwei Hände braucht. Doch um das verstandesmäßige Ergründen geht es bei dieser Frage überhaupt nicht. Stattdessen geht es um das lebendige Erfahren aus erster Hand, um die eigene unmittelbare Wahrheit zu entdecken und zu erleben. Die Grenzen des rationalen Verstandes überschreiten und ins Fühlen kommen.

Ganz im Sinne des großen Mythenforschers Joseph Campbell, der einmal sagte, dass die meisten Menschen nicht so sehr nach den Sinn des Lebens suchten als vielmehr danach, sich wirklich lebendig zu fühlen. Und wir können uns nur dann lebendig fühlen, wenn wir … fühlen. Und dazu brauchen wir unsere unabgelenkte Aufmerksamkeit.

Was ist nun also der Ton einer klatschenden Hand? Machen wir uns bereit für ein praktisches Experiment und betrachten ein bis zwei Minuten lang unsere linke oder rechte Hand. Was sehen wir dort, wenn wir genau hinschauen? Und es geht jetzt nicht darum, diese Frage mit dem Verstand zu beantworten. Bleiben wir vielmehr im stillen aufmerksamen Betrachten unserer Hand und bemerken, was wir dort sehen. Wie fühlen wir uns, wenn wir unsere Hand in allen Einzelheiten, in jedem kleinen Detail betrachten – ein bis zwei Minuten lang …? Fühlt sich die Hand plötzlich irgendwie lebendiger an? Wacher? Präsenter? Und – vorausgesetzt, wir haben es tatsächlich geschafft, unsere Aufmerksamkeit unabgelenkt für eine oder zwei Minuten auf unsere Hand zu richten – fühlen wir uns, nach einer Weile des aufmerksamen Betrachtens, vielleicht auch irgendwie wacher, lebendiger, präsenter? Dies ist das Geschenk der Stille.

(Meditation)

Dieses kleine Experiment lässt sich natürlich auf den gesamten Körper anwenden (wozu ich herzlich einladen möchte).

Eine weitere sehr einfache Möglichkeit, den eigenen Körper als Weg in die Stille zu nutzen, ist die Schwerkraft der Erde zu nutzen, um sich von innen her aufzurichten. Die Beziehung zwischen Schwerkraft und unserem Körper ist eine Konstante, die sich zwangsläufig auf unser gesamtes Verhalten auswirkt.

Lebenslang bleibt unser Körper mit Bewegungen und Beziehungen zur Schwerkraft beschäftigt. Und ob sich unser Körper leicht oder schwer, auf angenehme oder auf erschöpfende Weise bewegt, ist abhängig davon, wie angemessen oder unangemessen wir uns dem Einfluss der Schwerkraft gegenüber verhalten.

Angemessen verhalten wir uns, wenn wir die Ausrichtung unseres Körpers so organisieren, dass wir den Widerstand und die Tragfähigkeit des Bodens nutzen. Intellektuell wissen wir zwar, dass uns der Boden trägt … ob wir dies aber auch wahrnehmen und empfinden und uns entsprechend verhalten, ist eine andere Frage.

Probieren wir es doch gleich mal wieder ganz praktisch aus: ganz gleich, ob wir jetzt liegen oder sitzen oder stehen – empfinden wir, dass wir dabei vom Boden getragen werden? Fühlt sich unser Körper an wie einer, der sich tragen lässt? Oder braucht es dazu eine gewisse Anspannung? Wie viel Muskelkraft benötigen wir tatsächlich, um uns auf mühelose Weise aufgerichtet und getragen zu fühlen?

Der Zustand, zu dessen Aufrechterhaltung wir nicht ständig Muskelkraft einsetzen müssen, wird als Gleichgewicht bezeichnet. Im Gleichgewicht zu sein fühlt sich leicht und angenehm an. Wenn wir uns vom Boden gestützt und getragen erleben, benötigt unser Körper keine Aufmerksamkeit mehr, um sich mit Anstrengung und Muskelkraft aufzurichten. Und dieses Erleben von Nicht-Anstrengung führt unmittelbar in die Stille.

Machen wir uns also immer wieder deutlich, dass, solange wir uns im Gravitationsfeld der Erde aufhalten, Schwerkraft ununterbrochen und unmittelbar auf uns einwirkt. Und unser Verhalten zur Schwerkraft, ob angemessen oder unangemessen, entscheidet über die Qualität unseres Seins. Darüber also, ob wir es körperlich leicht oder schwer haben und wie entspannt und innerlich still wir dabei werden können.

Du selbst machst Kampfsport: Wie kommen Stille und Kampf zusammen?

Da möchte ich gern erst eine kleine Korrektur anbringen und nicht von Kampf-Sport, sondern von Kampf-Kunst sprechen. Dieser kleine Unterschied mag unerheblich erscheinen, tatsächlich aber liegen Welten dazwischen.

Die Kampfkünste beruhen auf zum Teil Jahrhunderte alten Traditionen, während das, was wir als Kampfsport kennen, die auf unser Leistungsdenken adaptierte, wettkampforientierte Variante ist, die von amerikanischen Soldaten vor 50 Jahren aus Südostasien in den Westen importiert wurde. Kampfkunst ist für mich gleichbedeutend mit Lebenskunst und somit eng mit dem Kultivieren von Stille verbunden.

Ich selbst bin mit Anfang 20 zu den Kampfkünsten gekommen, nachdem ich meinem Körper durch meine damalige berufliche Tätigkeit und eine wenig achtsame Lebensweise sehr geschadet hatte. Insofern war es für mich also erstmal ein Weg, meine körperliche Konstitution wieder herzustellen.

Mehr und mehr wurde für mich dann aber deutlich, wie es um meine Gesamtverfassung bestellt war. Meine innere Zerrissenheit und das Gefühl des Getrenntseins von Körper und Geist sowie aller anderen Aspekte meines Lebens wurden sichtbar. Und auf unangenehme Weise spürbar.

Und das ist es, wo die Kampfkünste im eigentlichen Sinne ansetzen: sie sind ein Weg, das Getrenntsein von Körper und Geist zu überwinden und umfassende Heilung und Integrität herzustellen. Dabei geht es nicht um den Kampf gegen ein menschliches Gegenüber – das ist Sache des Kampfsportes. Es geht viel mehr um das Ringen mit den eigenen Selbsttäuschungen und allen anderen Verirrungen und Verwirrungen, die uns das Leben schwer und den Weg in die (dauerhafte, reife) Stille unmöglich machen.

Dazu möchte ich einen chinesischen Zen-Text aus dem 14. Jahrhundert zitieren, in dem es heißt: „Wenn das Herz Stille hält, führt das zu Gleichmut. Darum gefällt dem stillen Herzen das Leben in den Bergen. In den Bergen gibt es wahrlich keinen Mangel an Stille, Doch hüte dich vor den Bergen, solange dein Herz noch nicht still ist.“

Hier begegnen wir wieder den Ochsenbildern – in den ersten acht Bilden wird das Ringen mit unserer wahren Natur beschrieben, die verhüllt und verschleiert ist von einer Vielzahl an konditionierten Meinungen und Glaubensmustern, von Emotionen und traumatischen Erlebnissen und unseren verleugneten Schattenseiten.

Diese sind es, die dazu führen, dass unser Herz nicht, wie es in dem Zen-Text heißt, still ist. Und die wir aber fürchten und daher in die Stille flüchten wollen. Solange wir aber Stille als Flucht vor uns selbst suchen, erliegen wir unseren Selbsttäuschungen und machen alle Bemühungen um das Kultivieren dauerhafter, reifer Stille zunichte.

Erst, wenn wir den Mut aufbringen, uns unseren abgelehnten und verleugneten Anteilen zu stellen, machen wir den Weg frei. Das, was uns bislang von uns selbst und von anderen getrennt hat, steht uns nun nicht länger im Weg.

Das Resultat ist Verbundenheit, mit uns selbst und dem Leben. Dadurch, dass wir uns unseren unangenehmen Wahrheiten gestellt und diese integriert haben, sind wir offener, weicher, verletzlicher und demütiger geworden. Dies führt in der Folge zu Mitgefühl mit anderen Menschen, die sich ganz ähnlich, von sich selbst getrennt und verlassen, fühlen. Mitgefühl und Verbundenheit sind ein Weg zu Kooperation und Frieden auf unserem Planeten – das ist das Geschenk der Kampfkünste. Und natürlich das Geschenk der Stille.

Um nun, ganz zum Schluss, vielleicht doch noch den Versuch einer – wenn auch nur unzureichenden – Definition von Stille zu wagen: Stille ist der authentische Ausdruck der Unmittelbarkeit des Lebens in der Gegenwärtigkeit des Hier und Jetzt.